«Wuuammmm!!!», knallt es unverhofft und ohrenbetäubend. Was für ein gewaltiger Donnerschlag! Dieses heftige Sommergewitter bringt aber weder mich noch meine knuddeligen Geschwisterchen aus der Ruhe. So leicht lassen wir uns unseren hart erspielten Mittagsschlaf nicht rauben. Es kommt nicht von ungefähr, dass man uns nachsagt, dass wir ausgeglichen und anpassungsfähig sind. Ja, und wie wir anpassungsfähig sind, das zeigt jüngstes Beispiel. Spielfreudig wie wir Labradorwelpen nun mal sind, haben wir noch vor wenigen Minuten wild in unserem Gehege draussen gespielt, geblödelt und uns begleitet von lautem Gebelle vergnüglich ausgetobt. Als uns dann aber plötzlich die grossen Regentropfen auf unsere Schnauzen platschten und uns in unsere Kulleraugen spritzten, verging uns die Lust schlagartig und wir sind in unser gemütliches Welpenzimmer geflüchtet. Mein Bruder Kiro, der pfiffigste von uns allen, war natürlich der erste und hat sich gleich im wuscheligen Körbchen eingenistet. Der freche Kerl hat sich so lang und breit gemacht, dass er mit seinem kleinen Körper nun doch fast den ganzen Korb ausfüllt. Also habe ich es mir mit den anderen Geschwisterchen auf dem Boden gemütlich gemacht. Was solls, das stört uns nicht. Wir lieben es, uns gegenseitig als Kissen zu benutzen und auf diese Weise die Wärme und Nähe voneinander zu spüren. So lasse ich es auch zu, dass mir meine Schwester Kaya beim Versuch, sich auch noch in den haarigen Wuschelhaufen einzunisten, tollpatschig ihre linke Vorderpfote ins Gesicht drückt und dort wohlwollend liegen lässt. Besonders in diesen ersten Lebenswochen brauchen wir einander mehr denn je und natürlich auch unsere Mama, welche diesen ruhigen Moment ausnutzt, um in ihrem Hundekorb den wohlverdienten Erholungsschlaf zu geniessen. Es sei ihr auch gegönnt, hat sie doch viel Arbeit mit ihrem Nachwuchs, bestehend aus neun quirligen und verfressenen Schlitzohren in den Farben Schwarz, Braun und Gelb. Sie kümmert sich rührend um uns, damit wir uns umsorgt fühlen und uns mit unserer Umgebung bekannt machen können. Geborgenheit und Vertrauen sind in dieser ersten Lebensphase nicht nur wichtig, sondern auch sehr prägend, denn wir sind besondere Welpen, die einer grossen Lebensaufgabe entgegenblicken.
So vergingen die Tage wie im Flug und wir sind nun schon zehn Wochen alt. Es war immer etwas los und ich spielte oft mit meinen Geschwisterchen und unseren Hundebetreuern. Und dann eines schönen Tages, wir waren so aufgeregt, machten wir unseren ersten Ausflug ins Dorf, das war vielleicht ein Erlebnis! Da waren auf einmal so viele Leute. Alle bewunderten uns und waren begeistert, uns zu sehen, vor allem die kleinen, süssen Menschenkinder. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Autos und sonst noch so komische Dinger auf Rädern in allen Formen und Varianten in freier Wildbahn gesehen. Überall hat es anders gerochen und ich konnte gar nicht oft genug in der Gegend herumschnuppern. Vor lauter Abenteuerlust habe ich gar nicht gemerkt, dass meine Hundebetreuer, die mich durch diesen riesigen Vergnügungsparkt führten, ein besonderes Augenmerk auf mich gerichtet hatten. Besser gesagt registrierten sie ganz genau meine Reaktionen auf Lärm, Geräusche, Gerüche und auch auf die Leute, den Verkehr und das geschäftige Treiben um mich herum. Ohne es zu wissen, absolvierte ich gerade mein erstes Training in meiner Laufbahn als angehender Blindenführhund.
Zu den Ausflügen gesellten sich mit der Zeit auch Besuche von fremden Leuten, was für uns wiederum eine freudige und willkommene Abwechslung war. Eine nette Frau hat mich wohl besonders in ihr Herz geschlossen. Sie hat mich immer wieder besucht, mit mir gespielt und mir Leckerlis gegeben. Und ehrlich gesagt, ich mag sie auch ganz doll. «Ah», da ist sie ja wieder! Vor lauter Begeisterung springe ich ihr so schnell ich kann hüpfend entgegen, umkreise sie mit einer Acht um und zwischen den Beinen hindurch, schlecke vor Freude ihre Hände und ups…… ja, für die kleine Pfütze auf dem Boden bin ich auch verantwortlich. Eigentlich sind wir Hunde sehr reinlich, aber im zarten Alter von weniger als 14 Wochen ist unsere Blase noch völlig untrainiert und der Verdauungsapparat nicht komplett ausgebildet, so dass wir unsere Schliessmuskeln beim besten Willen nicht unter Kontrolle haben können. Und schon gar nicht, wenn die Gefühle mit uns durchgehen! Na, was solls, solange die Pfütze nicht in meinem Bettchen ist, denn dieses ist mir hoch und heilig und muss sauber und vor allem trocken bleiben. «Na wohin geht’s denn jetzt?» Ich glaube nach draussen. Super, denn ich habe grosse Lust auf eine weitere Entdeckungsreise. «Was ist das für ein Wagen, der riecht ja ganz fremd, den kenne ich gar nicht und wo bleiben die anderen? Die nette Frau lenkt mich ab, indem sie mir aufmunternd zuredet. Neugierig folge ich ihrer Aufforderung und hüpfe etwas tollpatschig in den Wagen. «Was haben wir denn da?» «Mmmm» und wie das riecht. Im Nu habe ich meine heissgeliebte Decke wiedererkannt, schnuppere aufgeregt daran herum und meine feine Nase nimmt sofort den vertrauten Geruch von meinen Geschwisterchen wahr. Beruhigt lasse ich mich auf der Decke nieder und schaue zu, wie sich die nette Frau zu mir setzt und sich die Autotür schliesst. Müde von der ganzen Aufregung lasse ich mich hypnotisiert vom tiefen, eintönigen Brummen des Wagens und dem gleichmässigen Schaukeln sanft in das Land der süssen Träume einlullen. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, wie bedeutend und lange diese Reise werden würde.
Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen und ich geniesse das neue Zuhause bei meiner Patenfamilie. Als ich hier ankam, war ich etwas verstört, denn die Wohnung war sehr steril eingerichtet. Damals konnte ich mir nicht erklären, wieso meine Patenfamilie sämtliche Topfpflanzen und zerbrechlichen Dekorationen vor mir in Sicherheit gebracht und alle Teppiche im Keller versteckt hatte. Ihr müsst wissen, Welpen sehen in allem ein Spielzeug und die weichen Teppiche haben gar eine magische Anziehungskraft auf die «Geschäfte» von uns Winzlingen. Das gehört nun aber schon seit Monaten der Vergangenheit an und ich habe eine meiner beiden grossen Aufgaben zusammen mit meiner Patenfamilie erfolgreich gemeistert: «Ich bin stubenrein!» Was für ein Glück, denn es gibt Spassigeres als Tag und Nacht alle 2-3 Stunden Gassi zu gehen… zugegeben die Leckerlies und lobenden Streicheleinheiten nach getaner Arbeit waren ganz ok.
Seit ich bei meiner Patenfamilie bin, darf ich täglich mehrere lange Spaziergänge machen, wo wir auch gemeinsam spielen und… ich lerne italienisch. Ja, ihr habt richtig gehört. Das hättet ihr jetzt wohl nicht erwartet, aber ich muss mit der Zeit etwa 30 italienische Hörzeichen in meinem Repertoire haben, da liegt noch viel Arbeit vor mir. Aber meine Patenmamma wird mir das schon beibringen. Sie lässt mich nie allein, keinen einzigen Tag und ich darf sie überallhin begleiten. Einmal gingen wir einkaufen und da kam ein riesiger Wagen auf mich zugerollt, blieb exakt vor mir stehen und als sich die Türen öffneten, blickte ich auf eine Art Mini-Treppe, die ich hochklettern musste. So, eröffnete sich mir das Leben jeden Tag aufs Neue als ein einziges Abenteuer und ich lernte Busfahren, bin mit dem Zug gereist und in Aufzügen die Läden hoch und runtergefahren. Ich werde nie vergessen als ich das erste Mal in einem gläsernen Aufzug steckte. Nur meine Patenmamma und ich waren darin und ich konnte sehen, wie wir uns vom Boden abhoben, immer höher schwebten und ich auf die winzigen Menschen unter mir blicken konnte. Was für ein irres Gefühl. Ja, meine Patenmamma machte mich mit allem vertraut. Nicht nur das Leben in der Stadt lernte ich kennen, wir besuchten Welpenkurse und diverse Junghundetrainings, wo ich den Umgang mit meinen Artgenossen und anderen Menschen lernte und somit habe ich auch die zweite meiner grossen Aufgaben bei der Patenfamilie mit Bravour gemeistert. Ich bin «sozialisiert», wie das so schön heisst. Und wisst ihr, was das Tollste war? Ich habe in den verschiedenen Kursen sogar einmal ein paar von meinen Geschwistern wieder gesehen. Die Leben ebenfalls in lieben Patenfamilien und wer weiss, wann wir uns das nächste Mal wieder sehen.
Ich habe heute Morgen sofort gemerkt, dass dieser Tag nicht wie sonst sein würde, etwas war anders. Meine Patenmamma war anders… ihre Stimme, ihr Geruch, ihr Verhalten. Schon den ganzen Morgen war sie so bedrückt und nun kniet sie vor mir, streichelt liebevoll meinen Kopf und flüstert mir mit leiser und zittriger Stimme tröstende Worte zu, die ich nicht verstehe und trotzdem etwas verwirren. Sie versucht sich zusammenzureissen, was ihr aber nicht wirklich gelingt und schon schwappt ein sanftes Tränchen über ihren geröteten Augenrand und kullert immer rasanter die Wange hinunter. «Hallo, wo gehst Du denn jetzt hin?» schaue ich meiner Patenmama wedelnd hinterher. Aber diese dreht sich nicht einmal mehr um. Komisch, so kenne ich sie gar nicht. «Wo bin ich hier überhaupt?» Den Kopf in alle Richtungen drehend schaue ich mir schnuppernd die Gegend an und irgendwie kommt mir alles bekannt vor. Ich bin mir sicher, dass ich wieder zurück in meinem «alten» Zuhause bin, wo ich auch geboren wurde. Meine Neugierde ist geweckt. Am liebsten würde ich mich gleich auf Entdeckungstour begeben und es fällt mir nicht leicht, ruhig an der Seite meines neuen Herrchens stehen zu bleiben. Dieser kann wohl meine Gedanken lesen, tätschelt mich liebevoll und los geht’s. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg in ein neues Abenteuer.
«Wuf, wuf… wuf», erklingt es plötzlich ganz laut in meinen Ohren und sofort wird mir klar, dass ich diese Stimme nur allzu gut kenne. Reflexartig dreht sich mein Kopf in die Richtung, woher die Laute ertönen und ich kann nur noch staunen. Wer kommt denn da um die Ecke angebraust? Es ist eines meiner acht Geschwister! Freudig fallen wir gegenseitig über uns her, schnappen liebevoll nach uns und tollen uns zur Begrüssung ausgiebig auf dem Boden herum. Den Rest des Tages verbringe ich spielend mit meinem neuen Herrchen, welcher die nächsten Tage keine einzige Minute von mir weichen wird, bis ich dann abends überwältig von den neuen Ereignissen im wahrsten Sinne des Wortes hundemüde in mein Körbchen falle. Den Schlaf kann ich auch gut gebrauchen, denn morgen geht’s es los mit meiner Ausbildung zum Blindenführhund. Eine weitere Etappe in (m)einem besonderen Hundeleben.
Noch etwas verschlafen, öffne ich geweckt von meinem neuen Herrchen die Augen. Ach ja, heute beginnt ja meine Ausbildung und Du bist wohl nicht nur mein neues Herrchen für die kommenden Monate, sondern auch mein Instruktor. Wie das wohl werden wird, frage ich mich neugierig. Es geht nach draussen und ich blicke mit grossen Fragezeichen in meinen Augen erstaunt um mich. «Da geschieht ja gar nichts!» So gross die Enttäuschung ist, so schnell habe ich sie beim Spielen auch schon wieder vergessen. Das Herumtoben hebt sofort meine Laune und stimmt mich und meinen Instruktor positiv auf den Tag ein. Seid ihr schon einmal mit dem linken Bein aufgestanden und dann war der ganze Tag schräg und nichts wollte wirklich gut gelingen? Genau das darf uns nicht passieren und deshalb ist dieses morgendliche Ritual so wichtig für uns, damit wir spielerisch fit und munter in den angehenden Tag starten.
«Tavo….. tavo». Die Spielzeit ist zu Ende und wir sind wieder drinnen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, schaue ich meinen Instruktor mit gehobenen Augenbrauen an. Keine Ahnung, was der von mir will. «Hast Du mir nicht einen kleinen Tipp? Nur einen klitzekleinen… möchtest Du, dass ich auf diesen Tisch vor mir springe?» Ok, mir soll’s recht sein. So, hüpfe ich elegant auf den Tisch und bereue es nicht. Ach, tut das gut! Fellpflege nennst sich das, eine tägliche Wohltat. Gleichzeitig werden wir auch jeden Tag abgetastet und auf Entzündungen und Verletzungen kontrolliert, damit wir gesund und munter bleiben. Frisch gestriegelt und gepflegt geht’s zum Training in die Stadt, wir wollen ja hübsch aussehen für unsere Expedition. Der Ausflug war großartig und ich habe viel gelernt, aber jetzt habe ich vor allem eines…. ich habe Hunger. «Gibt es denn hier auch etwas zu futtern?»
Frisch gestärkt sind wir parat für die «Kopfarbeit». Nebst italienisch auch noch Mathe, das wär’s! Nein, schliesslich müssen wir ja nicht die Anzahl Stufen einer Treppe zählen können. Kopfarbeit heisst bei uns: üben, üben und nochmals üben. Jeden Tag lernen wir neue Aufgaben zu bewältigen und da ist es wichtig, auch das bereits Gelernte täglich zu wiederholen, damit wir es nicht vergessen und es in unserem Gedächtnis festigen können. «Ihr habt Mitleid mit mir? Nicht doch!» Mir geht es super hier und die Arbeit mit meinem Instruktor und Hundebetreuer macht Spass. Ich glaube nicht, dass ihr bei der Arbeit mit so vielen Streicheleinheiten verwöhnt werdet, wie ich und dass ihr für jede gute Leistung ein feines Leckerli bekommt. «Ah, mein Arbeitsgeschirr kommt weg», das heisst Pause für mich. Ich kann nun machen, was ich will. Soll ich zur Auflockerung etwas mit meinen Kumpels spielen oder mich beim Faulenzen erholen? Ein kleines Nickerchen klingt auch nicht schlecht.
«Sed….. sed» ertönt es an meiner Seite, denn meine Pause ist schon längstens vorbei. Inzwischen ist es mitten am Nachmittag und bin soeben von einem ausgedehnten Spaziergang mit meinem Hundebetreuer zurückgekommen. Dieser war heute vielleicht lustig drauf! Der Schlingel hat immer so getan, als ob er mir das Stöckchen wirft. Ich, angespannt in den Startlöchern, spurtete los wie eine Rakete… aber, wo war es denn? Ich suchte die Luft in alle Himmelsrichtungen ab, konnte aber beim besten Willen kein Stöckchen entdecken. Könnt ihr euch vorstellen, wie dämlich ich so dagestanden habe? Einfach peinlich. «Sed!…..» holt mich die etwas schroffer gewordene Stimme in die Realität zurück und ich setze mich blitzschnell ganz artig an die Seite meines Instruktors. Ich muss mich zusammenreissen und mich konzentrieren, sonst gebe ich im heutigen Gehorsamkeitstraining kein gutes Bild ab. Ich will aber nur zu gerne die verschiedenen Befehle unterscheiden können und darauf richtig reagieren, dann werde ich liebevoll getätschelt, begleitet von einem herzhaften «Brava» und….. ganz zu schweigen von meinen heissgeliebten Leckerlis!
Auch wenn mir ab und zu noch diese kleinen Unaufmerksamkeiten unterlaufen, so kenne ich inzwischen den Unterschied zwischen Arbeitszeit und Freizeit sehr genau. Ja, ihr habt richtig gelesen. Wie ihr stehe auch ich unter der Woche jeden Morgen auf und gehe zur Arbeit, habe meine Pausen, meine Freizeit und meinen Spass. Und wie ihr geniesse auch ich meine freien Wochenenden. Ernst gilt es, sobald ich mein Hundegeschirr anziehe und ganz ehrlich, auch das will gelernt sein! Sobald ich aber in meiner Arbeitskleidung stecke, bin ich hochkonzentriert. Denn von nun an bin ich nicht nur für mich verantwortlich, sondern auch für mein Herrchen. Von ihm erhalte ich sein absolutes Vertrauen geschenkt. Wir sind ein Team und mein Partner geht davon aus, dass er sich vollkommen auf mich verlassen kann. Also denkt daran, wenn ihr mir in meinem Arbeitstenü begegnet und stört mich bitte nicht bei meiner Arbeit. Spielen können wir später, wenn ich Feierabend habe.
Es ist morgen früh, dunkle Wolken hangen am Himmel und es regnet in Strömen. Mein Fell ist klitschnass und um meine empfindliche Schnauze weht ein feuchter, kühler Wind. «Ach, wie gerne wäre ich jetzt in der warmen Stube am Faulenzen!» Nichts da, ich habe meine Arbeitskluft an und das bedeutet «Disziplin». Stramm stehe ich hier hochkonzentriert am Start und bin bereit für meinen letzten Trainingsparcours nach sieben Monaten Ausbildung.
«Vai…. Vai» gibt mir der Instruktor die Anweisung. Endlich geht es los! Ich beginne zu laufen, dicht an meiner Seite ist mein Instruktor mit seinem Taststock. Jetzt nur nichts falsch machen. Und da ist es schon, das erste Hindernis, das wir zu bewältigen haben. Die orangen leuchtenden Pylonen weiss ich inzwischen sehr gut zu interpretieren. Gekonnt führe ich meinen Partner etwas nach rechts, ja auch rechts und links kann ich unterscheiden. Also wie gesagt führe ich meinen Partner etwas seitlich, denn draussen im wirklichen Leben würden wir uns jetzt Mitten vor einer Baustelle befinden. Für mich heisst das nun, dass ich meinen Instruktor behutsam um diese Baustelle zurück auf unseren gewohnten Weg führen muss. Nicht, dass er mir noch in eine Abschrankung läuft oder gar in ein Loch stolpert. Apropos Abschrankung. «Habt ihr schon gewusst, wie hinterlistig die Dinger für mich sein können?» Da haben wir auch schon ein wunderbares Exemplar vor uns. Die Latten sind so hoch über meinem Kopf aufgehängt, die sieht kein normaler Hund! Würden sich diese Teile meiner Aufmerksamkeit entziehen, so würde mein Kolleg da jetzt frontal mit seinem Gesicht dagegen klatschen. Gekonnt warne ich ihn, so dass wir auch dieses Hindernis ohne blaues Auge und ohne Beule am Kopf hinter uns lassen.
Achtung! Hier geht’s ein paar Stufen runter. Ich halte an und zeige diese damit meinem Instruktor an, welcher nun beginnt, mit dem Stock den Boden abzutasten. Er erkennt die kleine Treppe vor uns und wir können diese nun behutsam Tritt für Tritt absteigen. Zum Glück war dies keine Rolltreppe! Auch auf das muss ich im wirklichen Leben nämlich vorbereitet sein. «Wisst ihr, was dann gewesen wäre?» Ich hätte nicht nur elegant den Weg zwischen den entgegenkommenden Passanten hindurch meistern müssen, nein ich hätte mich gleichzeitig noch nach einer Alternative zur Rolltreppe, am besten eine normale Treppe oder ein Aufzug, umsehen müssen. Was für ein Stress! Das gleiche gilt im Falle auch für Rollteppiche. Und dabei immer schön den Weg «im Auge» behalten… leichter gesagt als getan.
Ich glaube mein Kollege hat sich eine kleine Pause verdient. Vor mir ist eine improvisierte Bushaltestelle und wir machen einen kurzen Halt. «Banca», erklingt mein nächster Befehl und ich suche die Gegend nach einer freien Sitzgelegenheit ab. Schnell habe ich diese entdeckt, setze mich davor und lege ruhig meinen Kopf auf die Sitzfläche. Mein Instruktor kann diese nun durch Abtasten meines Körpers finden. Ehrlich gesagt, klingt eine Verschnaufpause auch für mich ganz gut. «Billetta…», fordert mich mein Instruktor aber erneut auf. Ach ja, wir sind ja an einer Haltestelle, nichts mit Ausruhen. Irgendwo muss hier ein Billettautomat herumstehen. Ich suche mit meinen Blicken schweifend die Umgebung ab und da ist er auch schon. Das Billett in der Tasche geht’s weiter zum Fussgängerstreifen. Auch keine leichte Aufgabe. Ich setze mich mit genügend Abstand am Strassenrand hin und jetzt kommt ein besonderes Kunststück von mir. Aufgepasst! Mit einem eleganten Schwung aus den Hüften hebe ich meine Vorderpfoten auf, strecke mich in voller Länge und «Klick»….. schon habe ich die rote Taste an der Fussgängerampel betätigt, nicht schlecht, oder?
Ich bin stolz auf mich und ich weiss, da draussen im wirklichen Leben gibt es noch viel mehr Hindernisse. Aber nach all den Monaten Training bin ich bestens ausgebildet und kann morgen mein Wissen und Können erneut unter Beweis stellen. Morgen ist ein grosser Tag für mich und mein Instruktor … die eidgenössische Prüfung zum Blindenführhund steht an! «Bitte drückt mir fest die Daumen, denn auch wenn ich perfekt vorbereitet bin, etwas Glück kann man immer gebrauchen…»
Ein herzliches Dankeschön möchte ich an dieser Stelle an die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil richten, die mir diese wunderschönen Bilder zur Verfügung gestellt hat, sowie ganz besonders an Frau Bucher für ihre wertvollen Informationen.