"Mamma, wieso hat Hanna keinen Teller?", platzt es empört aus mir heraus. Fragend hebe ich meinen Kopf in Richtung meiner Mutter und fixiere sie mit meinem kindlichen Unschuldsblick. Meine Mutter, die soeben im Begriff war, sich für das Nachtessen auf ihren gewohnten Platz zu setzen, richtet sich langsam wieder auf, atmet tief ein und richtet sich kerzengerade hin. Ihre Lippen öffnen sich leicht, aber es kommt keine Antwort. Stattdessen wechselt sie nach Worten suchend den Blick zwischen mir und dem Stuhl zu meiner Linken, auf welchem Hanna sitzt. Als ob ich meine Frage wiederholen wollte, deute ich mit meinem kleinen wurstigen Zeigefinger auf das fehlende Tischset. Meine neue Freundin nimmt es zum Glück gelassen und lächelt mich einfach nur verständnisvoll an. Den Kopf hat sie leicht zur Seite geneigt. Das lange, leuchtende Haar umrahmt ihr filigranes Gesicht und macht es dadurch noch sanfter und warmherziger. Sie sieht aus wie ein Engel. Nein, für mich ist sie ein Engel. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche, egal wann und wo.
"Hanna hat auch Hunger!", setze ich mich erneut vehement für meine neue Freundin ein. Ich spüre wie meine grossen blauen Augen warm werden und beginnen, sich mit Tränen zu füllen. Tränen der Verzweiflung, weil ich nicht verstehe, was hier passiert und wieso sich meine Mutter so komisch verhält. Endlich regt sie sich, wenn auch unbeholfen und unsicher, was sie nun tun soll. Nach einem kurzen Abstecher in die Küche, steht sie mit einem zusätzlichen Gedeck wieder neben mir. Sorgfältig und bedacht deckt sie dieses vor Hanna auf und denkt, ich würde nicht merken, wie sie dabei sorgenvolle Blicke mit meinem Vater austauscht. Als sei die Arbeit mit dem Aufdecken beendet, will sie sich schon wieder an ihren Platz setzen.
Nun sitze ich da, allein mit meinen Schuldgefühlen und Hanna, meine neue treue Freundin, die dem Anschein nach nicht willkommen ist. Lustlos starre ich auf den Mix aus Bolognese-Sauce mit Teigwarenblättern auf meinen Teller. Ich habe keinen Hunger mehr und möchte am liebsten in mein Zimmer verschwinden und mich unter meiner Bettdecke verkriechen. In meinen Sorgen versunken, dringt Hannas sanft klingende Stimme zu mir durch, als ob sie meine Gedanken lesen könnte. "Lisa, Deine Mamma und Dein Papa können mich nicht sehen", tröstet sie mich. Ich weiss nicht, wie sie es macht, aber sie spricht mit mir, ohne dabei auch nur einmal die Lippen zu bewegen. Dafür lächelt sie mich aber umso einfühlsamer an.
Die Zeit scheint nicht vorbei zu gehen und die Stille lastet immer schwerer auf mir. Anstatt Geklirre von Töpfen und Besteck höre ich nun Stimmen aus der Küche. Stimmen, die immer lauter werden. Bis anhin habe ich noch nie einen Streit zwischen meinen Eltern mitbekommen. Nun bin ich schuld, dass die Diskussion zwischen ihnen heftiger und heftiger wird und das flösst mir Angst ein. Plötzlich wird mir kalt. Was habe ich bloss getan? Ich lausche angespannt der tiefen, rauen Stimme meines Vaters. Zu mir dringen nur Wortfetzen und ich werde zwischen Angst und Neugier hin und her gerissen. Hannas Gegenwart und ihr besänftigendes Lächeln machen mir Mut. Vorsichtig lasse ich mich vom Stuhl hinuntergleiten und schleiche mich auf Zehenspitzen zur Küche. Meinen kleinen Körper an den Türrahmen gepresst, guckt nur mein Gesicht bis und mit Nasenspitze in die Küche hinein. Aber meine Eltern sind so mit sich selbst beschäftigt, dass ich auch komplett sichtbar in der Tür stehen könnte. Sie würden mich nicht bemerken.
Die Worte, die mein Vater nun ausspricht, bohren sich wie Messerstiche in mein zartes junges Mädchenherz. Die Angst breitet sich explosionsartig in meinem kleinen Brustkorb aus und lässt mir kaum noch Platz zum Atmen. Panisch renne ich zu Hanna. "Bin ich krank? Mein Vater will mich zum Arzt schicken. Was ist ein Psychiater?", sprudeln die Fragen wie ein Wasserfall nur so aus mir heraus. Hanna sitzt ruhig da, leuchtend wie eine bezaubernde Fee, die bereit ist, mir jeden Wunsch zu erfüllen. Mit einem gütigen Lächeln im Gesicht strahlt sie mich an. Ihr Anblick und ihre Anwesenheit geben mir das Gefühl von Geborgenheit und die Gewissheit, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Etwas sagt mir, dass Hanna klug und weise ist und ich ihr vertrauen kann. Einfühlsam beruhigt sie mich und erklärt mir, dass ich völlig gesund sei und mit mir alles in Ordnung wäre. "Die Sache ist nur die; Du hast eine "unsichtbare" Freundin und ausser Dir kann mich niemand sehen. Aber das ist normal, da bist Du nicht die Einzige. Schau Dir doch nur Deinen kleinen Bruder an.", fordert sie mich aufmunternd auf.
Ich wünschte mir so sehr, mich auch an den Vorführkünsten von Lupi erfreuen zu dürfen, aber so wie meine Eltern Hanna nicht sehen können, bleibt auch für mich der Spielgefährte von Tim unsichtbar. Bei meinen Eltern bilden sich deswegen Kummerfalten auf der Stirn, ich aber bin einfach nur neidisch und betrübt. Ausgegrenzt muss ich zusehen wie sich mein kleines Brüderchen amüsiert, dabei könnte ich gerade jetzt auch gut etwas Aufmunterung gebrauchen. Hier spielt sich vor meinen Augen etwas Herrliches ab, woran ich nicht teilhaben kann, weil es für mich unsichtbar ist. Aber es soll noch schlimmer kommen. "Eines Tages wirst Du auch mich nicht mehr sehen können, Lisa. Je älter Du wirst, desto weniger wirst Du mich brauchen. Wahrscheinlich wirst Du mich irgendwann sogar ganz vergessen haben.", reisst mich Hanna aus meinen trüben Gedanken. Naiv und klein, wie ich mit meinen 4 Jahren bin, glaube ich fest daran, dass dies niemals passieren wird. Nein, Hanna muss bei mir bleiben!
Das ganze Abendessen ist überschattet von einer beklemmenden Stimmung. Meine Eltern wechseln kein einziges Wort miteinander und glotzen krampfhaft auf ihre Teller als wäre an der Lasagne etwas Besonderes zu entdecken. Freiwillig frage ich bei der ersten Gelegenheit, ob ich schon ins Bett darf. Das kommt so gut wie nie vor, dass ich früher schlafen gehen will. Normalerweise finde ich die kniffligsten Ausreden, um noch ein paar Minuten länger aufbleiben zu können. Aber jetzt will ich einfach nur noch unter die kuschelige Bettdecke, wo ich mich verstecken kann und Hanna für mich allein habe. Ich weiss, dass mich meine treue Freundin wie schon so oft mit einem ihrer Gutenachtlieder sanft und behutsam in den Schlaf wiegen wird.